Archive 2021 KubaParis

memory is a social organ

Location

fffriedrich

Date

09.09 –18.09.2021

Curator

Asta von Mandelsloh, Laura Schilling

Photography

Charlotte Bösling

Text

Auf dem Boden des Ausstellungsraums fffriedrich ist ein kleiner Hügel aus Erde aufgehäuft, um ihn herum liegen weiße Förmchen, die an Sandkastenspielzeug erinnern. Besucher*innen haben sie mit Erde gefüllt und kleine Skulpturen geschaffen, die sich überall im Raum verteilen. Einige sammeln sich in der Mitte, vereinzelt findet man sie auch etwas abseits in den Ecken, auf der Heizung, am Fensterbrett. Obwohl sie denselben Formen entstammen, sehen die kleinen Gebilde sehr unterschiedlich aus. Je nachdem, wie lange sie schon dort stehen, sind ihre Konturen klar zu erkennen oder beginnen, dünne Risse zu bekommen und auseinanderzufallen. Einige Besucher*innen nutzen die Form nur als Ausgangspunkt, um eigene Erdskulpturen zu schaffen, indem sie sie erweitern, kleine Stöcke hineinstecken oder an bereits bestehende Skulpturen anbauen. Die interaktive Installation shaping (2021) der Künstlerin Ludmila Hrachovinová ist ständig in Veränderung. Auf Grundlage der Formen, die die Künstlerin aus persönlichen Erinnerungen entwickelte, gestalten die Ausstellungsbesucher*innen sie jeden Tag neu. Im Mittelpunkt von Hrachovinovás künstlerischer Arbeit steht die Malerei, die sie jedoch immer wieder in Beziehung zu skulpturalen Objekten und performativen Elementen setzt und dabei den Entstehungsprozess von Formen hinterfragt. Im räumlichen Zentrum der Ausstellung memory is a social organ, kuratiert von Laura Schilling und Asta von Mandelsloh, lädt shaping dazu ein, sich mit kollektiver Erinnerungspraxis auseinanderzusetzen. Durch partizipative Teilhabe der Besucher*innen verändert sich in einem fortwährenden Prozess das Erscheinungsbild des Raumes, an dessen jeweils gegenüberliegenden Wänden die Videoarbeiten Elegy (2020) von Talya Feldman und TUTORIAL Takdir. Die Anerkennung (2021) von Ülkü Süngün zu sehen sind. Ergänzt werden diese von Sharon Jamila Hutchinsons dokumentarischem Video-Essay TITIA (2020), das während der Laufzeit in Screenings an der Fensterfront des Ausstellungsraumes gezeigt wird. Die drei Arbeiten sprechen von Schwarzen, jüdischen und migrantischen Erfahrungen und Geschichten, die im kollektiven Gedächtnis und in etablierten Erinnerungsnarrativen beständig überhört und übersehen werden. In Elegy verarbeitet Talya Feldman ihre Erfahrung als Überlebende des antisemitischen und rassistischen Anschlags von Halle an der Saale. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein rechtsextremistischer Attentäter während des Jom Kippur-Gottesdienstes mit Sprengsätzen und Waffengewalt in die Synagoge einzudringen. Als ihm dies nicht gelang, tötete er eine Passantin und einen Mann in einem Dönerlokal in der Umgebung und verletzte weitere Menschen schwer. Feldman sammelte Aussagen von Zeug*innen, die von dem Tag des Attentats und ihrem Versuch, das Erlebte zu verarbeiten berichten, und arrangiert diese zu einem Gedicht. Vorgetragen wird es von Christiany Erler, Paul McKenzie und Muhammad Nouman, die auf unterschiedliche Art und Weise ebenfalls rassistische und antisemitische Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen gemacht haben. Ihre Stimmen schichtet Feldman mit Synthesizer-Tönen zu einem polyphonen Klangstück, in dem sich die Erinnerungen der Zeug*innen im gemeinsamen Sprechen stellenweise überlagern, wiederholen, sich voneinander lösen und dann immer wieder fluchtpunktartig zueinander finden. “Up to that point, a normal day“, beginnt eine der Stimmen, “decided to have lunch. Explosion.” Danach ist nichts mehr, wie es war – es gibt ein Leben vor und ein Leben nach dem Anschlag, stellt ein anderer Erzähler später fest. In der Choreographie der Tänzerin Tirza Ben-Zvi, die das Klangstück auf visueller Ebene begleitet, finden die vielschichtigen Erfahrungen und Emotionen der Zeug*innen und Sprecher*innen – Unverständnis, Trauer und Angst, aber auch Hoffnung und Mut – ihren gemeinsamen Ausdruck. Gesten der Resignation und Erschöpfung wechseln sich ab mit expressiven, kraftvollen Körperbewegungen. Immer wieder lässt sie den Kopf in ihre Hände sinken, fährt sich mit den gespreizten Fingern langsam durch die Haare und über ihr Gesicht, verschränkt ihre Arme und Beine nah am Körper, um sie im nächsten Moment wieder nach außen zu öffnen. Sie sinkt abrupt zu Boden und richtet sich wieder auf – beinahe scheint der Körper der Tänzerin einer äußeren Krafteinwirkung unterworfen, dann sind ihre Bewegungen wieder kontrolliert und energisch. Ben-Zvi bewegt sich an der Grenze dessen, was sich rein sprachlich fassen lässt, und macht die körperliche Dimension des Erinnerns damit visuell erfahrbar. Indem Betroffene von antisemitischer und rassistischer Gewalt aus verschiedenen Teilen der Welt den Überlebenden von Halle in Elegy ihre Stimme leihen, wird das Attentat als Teil einer globalen Kontinuitätslinie erkennbar – entgegen des immer wieder ins Feld geführten Narrativs des „Einzeltäters“. Dabei geht es der Künstlerin jedoch entschieden um Vielstimmigkeit, keinesfalls um die Reduktion komplexer subjektiver Erfahrung auf eine eindimensionale Opferrolle. Dass Überlebende als passive Opfer wahrgenommen würden, sei, wie Feldman kürzlich in einem Interview sagte, einer der Gründe, weshalb ihren Erfahrungen im kollektiven Erinnerungsprozess kein zentraler Stellenwert zugesprochen werde. In Elegy begegnen sie sich in gegenseitiger Solidarität – im gemeinsamen Trauern und Erinnern verstärken sich ihre Stimmen gegenseitig und fordern Betrachter*innen zum Zuhören auf. Der Sprechakt als aktive Erinnerungspraxis steht ebenfalls im Zentrum der Arbeit TUTORIAL Takdir. Die Anerkennungvon Ülkü Süngün. Ausgehend von ihrer Performance Takdir. Die Anerkennung konzipierte Süngün das TUTORIAL als partizipative Videoarbeit. Darin erläutert sie die korrekte Aussprache der Namen der Mordopfer des NSU und übt diese anschließend mit den Betrachter*innen ein. Zwischen 2000 und 2007 ermordete der rechtsterroristische „Nationalsozialistische Untergrund“ die türkisch-, kurdisch- und griechisch-stämmigen Kleinunternehmer Enver Șimșek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Tașköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yașar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubașık, Halit Yozgat und die Polizistin Michèle Kiesewetter. Das beispiellose Versagen der Behörden in der Aufklärung der Anschlagsserie ist Ausdruck des tiefgreifenden strukturellen Rassismus, dem Betroffene von rechter Gewalt in Deutschland seit jeher ausgesetzt sind. Wenngleich die Angehörigen der Ermordeten von Beginn an auf das rassistische Motiv der Attentäter*innen hinwiesen, standen sie jahrelang selbst als Verdächtige im Fokus der polizeilichen Ermittlungen. Auch nach der Selbstenttarnung der Terrorist*innen wurden die Stimmen der Hinterbliebenen kontinuierlich marginalisiert, obwohl der überwiegende Teil der Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit bis heute in migrantischer Selbstorganisation erfolgt. Auf offiziellen Gedenkveranstaltungen würden die Opfer in die Rolle von „Statisten“ gedrängt, wie İbrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln es ausdrückte, obwohl sie die „Hauptzeugen des Geschehens“ seien. Aus der Beobachtung, dass die Namen der Ermordeten auf Veranstaltungen dieser Art zum Teil überhaupt nicht erwähnt oder fehlerhaft ausgesprochen wurden, entwickelte Ülkü Süngün Takdir. Die Anerkennung. Nimmt man auf einem Hocker in einer Nische des Ausstellungsraums Platz, begegnet man der Künstlerin in einer gesprächsähnlichen Situation. Auf einem Bildschirm, der auf Augenhöhe an der Wand angebracht ist, spricht Süngün vor weißem Hintergrund frontal in die Kamera. Sie beginnt mit der Aussprache einzelner Buchstaben und spricht im Anschluss die zehn Namen. Die Betrachter*innen sind aufgefordert, diese mitzusprechen. Mit ausdrucksstarker Mimik und Gestik begleitet Süngün einzelne Laute – das „ı“ holt sie mit ihrer linken Hand aus dem Zwerchfell nach oben, ein Close-up zeigt die Vibration ihrer Zunge, wenn sie das „r“ rollt. Die langsame, beständige Wiederholung überartikulierter Laute in einem freundlichen aber dennoch bestimmten Tonfall erinnert dabei an den belehrenden Gestus, dem viele Migrant*innen alltäglich begegnen. In Süngüns TUTORIAL kollidiert er mit der Unfähigkeit von Mitgliedern der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Namen derjenigen zu kennen und korrekt auszusprechen, mit denen sie seit Jahrzehnten zusammenleben. Die Aufforderung der Künstlerin, sich dem eigenen Unbehagen zu stellen und die Namen der Ermordeten laut zu sprechen, ist zugleich ein Appell, diese im kollektiven Gedächtnis zu verankern und in gemeinsamer Erinnerung gegen das Vergessen zu arbeiten. In ihrem dokumentarischen Video-Essay TITIA interviewt Sharon Jamila Hutchinson die Soziologin Vanessa E. Thompson und die Film- und Literaturwissenschaftlerin Ewelina Pepiak zur Geschichte und Gegenwart rassistischer Polizei- und Staatsgewalt. Die Interviews kombiniert sie durch filmische Montage mit verschiedenen Erzählebenen zu einem Essayfilm: Archivmaterial, Schriftelemente und dokumentarische Aufnahmen wechseln sich ab, es entstehen assoziative Bezüge und Querverbindungen zwischen filmischen Alltagsbeobachtungen und wissenschaftlich-theoretischer Begriffsarbeit, zwischen historischen Ereignissen und aktuellen politischen Entwicklungen. Die Filmaufnahmen, alltägliche Szenen auf den Straßen von Frankfurt, London und Paris, sind ruhig und zurückgenommen – Hutchinson zeigt Menschen auf dem Weg zur Arbeit, beim Warten auf die U-Bahn, dann schweift der Blick wieder über die Dächer der Städte. Die Kamera bleibt zumeist statisch, ihre Perspektive ist die einer teilnehmenden Beobachterin, die immer wieder durch Barrieren aller Art hindurchblickt: Zäune und Gitter, die Streben eines Geländers, Fensterscheiben. Viele der Einstellungen sind atmosphärische Nachtaufnahmen, die nur von Straßenlaternen und bunten Lichtreklamen beleuchtet werden. Diese finden sich wieder im Motiv der pinken, blinkenden Neonröhren, aus denen der Schriftzug „TITIA“ zu Beginn des Films zusammengesetzt ist und die erneut auf den Zwischentiteln aufgegriffen werden, die das Video-Essay in Kapitel teilen. In vier thematischen Blöcken ordnet TITIA aktuelle Fälle rassistischer Polizeigewalt historisch ein und versucht, mit Hilfe der Gesprächspartnerinnen Worte zu finden, mit denen sich die lange Geschichte staatlicher Gewalt gegen marginalisierte Menschen in Deutschland, Frankreich und Großbritannien begrifflich fassen lässt. In dünnen, weißen Buchstaben, die an handgeschriebene Notizen erinnern, werden dabei die wichtigsten Punkte aus den Interviews schriftlich wiederholt: die Namen der Todesopfer, Jahreszahlen und Orte, Theoretiker*innen und Konzepte. Hutchinson war es wichtig, sich mit dem Themenkomplex im europäischen Kontext auseinanderzusetzen: anders als in den USA sei der Diskurs hier weniger etabliert, nach wie vor würde von Einzelfällen gesprochen, statt sich der historischen Kontinuität rassistischer Gewalt aus transnationaler Perspektive bewusst zu werden. Ausgangspunkt und zugleich verbindendes Element der Geschichte rassistischer Staats- und Polizeigewalt in Deutschland, Frankreich und Großbritannien ist dabei die europäische Kolonialherrschaft. Nur vor diesem historischen Hintergrund sei es möglich, zu verstehen, wie Pepiak im Interview sagt, weshalb Schwarze Menschen und People of Color bis heute als Bedrohung wahrgenommen würden. Wer gilt als schutzbedürftig und wer nicht? Wen schützen Staat und Polizei und für wen bedeuten sie Gefahr? In einem Blick zurück in die Vergangenheit, der die Gegenwart nie aus den Augen lässt, zieht TITIA die Verbindungslinien von der komplexen Migrationsgeschichte Europas zum Erstarken rechtsnationalistischer Kräfte, von den migrantischen Widerstandskämpfen in den französischen Banlieus zur britischen Windrush generation, von der Anschlagsserie des NSU zum Attentat von Halle, zu dem Mord an Oury Jalloh und den rechtsextremen Strukturen in der deutschen Polizei. Dabei wird deutlich, dass rassistische Polizeigewalt immer auch als Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen strukturellen Rassismus zu betrachten ist. Die Verantwortung liege daher gleichermaßen bei der Zivilgesellschaft, wie Thompson betont – wegzusehen, nicht zu handeln, sei auch eine Form von Gewalt. memory is a social organ ist eine Ausstellung zur Erinnerung der Gegenwart, wie es im Untertitel heißt. Erinnern der Gegenwart setzt voraus, Zeit nicht linear-chronologisch, sondern als einen mehrdimensionalen Raum zu denken, an dem die Vergangenheit gegenwärtig und die Zukunft in der Gegenwart bereits aufgehoben ist. Durch den beständigen Wandel der Formen, die in immer neuen Konstellationen zueinanderstehen, wird der Ausstellungsraum als Erinnerungsraum durch Ludmilla Hrachovinovás interaktive Installation sinnlich erfahrbar. Im Erinnern an und von jüdischen, migrantischen und Schwarzen Stimmen in den Video-Arbeiten von Talya Feldman, Ülkü Süngün und Sharon Jamila Hutchinson treten diese miteinander in einen Dialog, der die historische und gegenwärtige Kontinuität von rassistischer und antisemitischer Gewalt sichtbar werden lässt. Dabei formulieren die Werke einen Appell an die Besucher*innen, sich aktiv an dieser Erinnerungsarbeit zu beteiligen, im Zuhören und gemeinsamen Sprechen am kollektiven Gedächtnis zu arbeiten und in bestehende Narrative zu intervenieren. Erinnerung, so die Prämisse der Ausstellung, ist soziales Organ und politische Praxis.

Sonja Palade