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KubaParis
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Photography
Diana PfammatterSubheadline
In der kleinen Reihe „My very favourite, very beloved things“ werden Gedanken und Texte veröffentlicht, die es letztes Jahr nicht von dem Schreibtisch geschafft haben – aber von Ausstellungen, Werken und Dingen erzählen, die die Autor*innen immer noch verfolgen und eine Wendung an das Außen verlangen. <p><p><p> Gegenwart? Das scheint im ersten Moment so banal und elementar wie das Atmen. Die US-amerikanische Künstlerin Dawn Kasper konfrontierte in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland namens „The Wolf and The Head on Fire“ die Besucher_Innen mit dem Gegenteil, nämlich: der Komplexität des Hier und Jetzt. </p>Text
The Artist is Present. So lautete der klangvoll verhallte, mittlerweile abgewetzte Titel einer Performance der Künstlerin Marina Abramovic. Abramovic machte nichts anderes, als sich an einen Tisch zu setzen, und allen willigen Besucher_innen für einige Minuten still in die Augen zu schauen. The Artist is present – die Aussage beschreibt jene Idee, die mit der strengen und auch verzwickten Trennung zwischen Werk und Schöpfer in ein Tête-à-Tête tritt. Wahrscheinlich haben die meisten Besucher_innen Minuten vor Abramovics Performance einen postmodernen Seufzer entlassen: endlich geht es mal nicht um das reine Betrachten oder Zuschauen, man kann stattdessen mit der Schöpferin verschmelzen, ein Teil ihres Werks werden. Die Unmittelbarkeit, die Gegenwärtigkeit wird scheinbar zu der spezifischen Indexikalität des Performativen, die zwischen der Schaffenden und dem Rezipienten entsteht. Weniger subjektzentriert findet dieser Gedanke in der aktuellen Ausstellung des Portikus Einzug: die Künstlerin Dawn Kasper transformiert jene Gegenwärtigkeit zu einem wesentlichen Teil der Materialität ihrer dortigen Ausstellung „The Wolf and The Head on Fire“.
Die Künstlerin ist während der Laufzeit der Ausstellung permanent anwesend im Ausstellungsraum, macht Musik, spricht mit den Besucher_innen, arrangiert Objekte, schafft Neues, reißt es wieder ab und baut es wieder auf. Jeden Tag arbeitet sie in der Halle des Portikus als wäre es ihr Atelier. Dawn Kasper nennt dieses künstlerische Verfahren, das sie seit 2008 praktiziert, Nomadic Studio Practice. Ihre Ausstellungsräume werden dabei zu ihren Produktionsstätten: die Künstlerin eignet sich Routine und Ritual, Performance und Akt als ihr Material an. Zugleich steht sie selber im Mittelpunkt – in ihrer gegenwärtigen Anwesenheit.
Überschreitet der_die Besucher_in die Schwelle des Ausstellungsraumes, ist er_sie vorerst mit Chaos konfrontiert: in der Mitte des Raumes baumeln von der Decke bis beinahe auf den Boden herabhängende Glocken. Links wie rechts befinden sich angelehnte, gestapelte oder freistehende Stellwände aus Holz, an einigen von ihnen sind großformatige Bilder von Sonnenuntergängen angebracht. Die klebrigen Leimspuren sind noch sichtbar. Mit dem Verlauf der Zeit wurden es mehr Bilder. Nach Kasper sind die Stellwände nicht nur Bildträger, sondern können in der Vertikalen zu Bühnen transformiert werden: die visuellen Codes, wie die des Sonnenaufgangs, werden von den Performances überschrieben. Weiterhin im Raum verteilt liegen ornamentale Teppiche, diverse Sitzgelegenheiten, ein großer, runder Tisch, auf dem Mischpult, Gitarre, Verstärker, und weitere Gegenstände abgelegt sind. Alles ist oder wird künftig Teil des performativen Agierens. Mit Kaspers künstlerischem Arbeiten im Raum ändert sich das Arrangement jener Gegenstände stetig. Die Kuratorin der Ausstellung, Christina Lehnert, legt wöchentlich aktualisierte Raumpläne aus, die im Rückblick das Zeugnis dieser Veränderungen sind. Kasper selber befindet sich irgendwo im Raum, selten hat sie gefehlt, und begrüßt jede_n Besucher_in mit einem freundlichen „Hey, how are you doing?“, um ein Gespräch zu beginnen. Hier beginnt nun etwas, das sich dem Sichtbaren entzieht: Künstlerin und Rezipient_In gehen ein Verhältnis ein. Kasper hat zwar konzeptuelle Notizen für „The Wolf and The Head On Fire“ entwickelt, dennoch bleibt der Verlauf der Ausstellung offen. Jeder Kontakt, jeder Besuch hinterlässt Spuren.
Was fordert diese Ausstellung nun ein? Um der Gegenwärtigkeit auf die Spur zu kommen, braucht sie mehr als nur den einmaligen Besuch. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben sagte, dass erst das Unzeitgemäße das „wahrhaft Gegenwärtige“ in seiner Substanz erfasse. Nur wenn wir begreifen, dass die Gegenwart im Dunkeln liegt, nicht zu erreichen ist und die einzige Möglichkeit einer Perspektivierung in der Verknüpfung mit der Vergangenheit liegt, können wir gegenwärtig sein. Dawn Kasper legt jeden Tag eine neue Schicht auf den jeweils vorangegangen Tag, geht mit den Spuren des vorherigen Tages um, und setzt das Geschehene somit in Relation. Gegenwart und Vergangenheit laufen zusammen. All das wurde mir, als Betrachterin, nur klar, als ich die wöchentlich wechselnden Raumpläne wahrnahm, mit Kasper redete, als ich mir bewusst machte, dass hier ständig alles im Wandel ist und ich nichts halten kann. Kaspers Ausstellung fordert die Besucher_innen auf, jenseits des Erfassbaren zu denken, weiterzumachen, da zu sein. Wahrscheinlich ist das die so eigene Stärke dieser Ausstellung: sie will, dass man im hier und jetzt anwesend ist.
Seda Pesen