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Eine Review der Ausstellung „Prinz der Austernpiraten“ im BPA Köln von Elena Frickmann.

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Der Schriftsteller Jack London war Zeit seines Lebens nicht nur als Journalist und einer der erfolgreichsten Autoren seiner Zeit bekannt, er war auch bekennender Sozialist. In seinem Essay „Was mir das Leben bedeutet“[1] reflektiert der in die Arbeiterklasse geborene London seine bereits früh ausgeprägte Sehnsucht nach sozialem Aufstieg. Den Aufbau der Gesellschaft beschreibt er darin als ein Gebäude, in dessen Keller er aufwuchs. Sein Ziel sind die höheren Etagen, wo das Leben nicht nur lebenswerter scheint, sondern auch - so glaubt er zu wissen - Selbstlosigkeit, edles Denken und Intellekt vorherrschen.

Den Titel Prinz der Austernpiraten (The Prince of the Oyster Pirates) verdient sich London dabei bereits in jungen Jahren, bekannt dafür, bei nächtlichen Fahrten mit seinem Boot die Austernbänke in der Bucht von San Francisco zu plündern. Das mag man als Diebstahl bezeichnen oder als illegale Umverteilung. Doch der ihm innewohnende Idealismus verachtet die Tatsache, dass der Kapitalismus stets auf dem Nachteil anderer aufbaut. Und seine Versuche des Strebens nach Vermögen bringen ihn auf der gesellschaftlichen Leiter ohnehin stets eine Sprosse nach oben und doch wieder zwei zurück. Körperlich ausgebeutet erkennt er, dass Bildung oder die Kopfarbeit der nachhaltigere Weg in die höhere Gesellschaft sein muss.

So macht Jack London als Schriftsteller seine biographischen Misserfolge und die daraus resultierenden Geschichten zu seinem Kapital. Endlich in der oberen Gesellschaft angekommen, findet er statt der erwarteten Selbstlosigkeit und moralisch Gleichgesinnter das vom Kapitalismus getriebene Verbrechen. Die desillusionierte Rückbesinnung zu seinen Wurzeln in die Arbeiterklasse schließt er mit den Worten „Es ist das Fundament des Gebäudes, das mich interessiert. Dort bin ich zufrieden bei meiner Arbeit, die Brechstange in der Hand, Schulter an Schulter mit Intellektuellen, Idealisten und klassenbewußten Arbeitern, bekomme ab und zu einen soliden Hebebaum und bringe das ganze Gebäude ins Wanken.“[2]. London war klug genug zu erkennen, dass sich das gesellschaftliche Gebäudekonstrukt nicht einfach so einreißen ließe, aber das man es umbauen könne.

Das Ausstellungsprojekt „Prinz der Austernpiraten“ des 1989 geborenen und in Köln lebenden Künstlers Mathias Weinfurter verleiht dieser Metapher nun eine visuelle Manifestation. An zwei silberglänzenden Eisenketten hängt ein drei Meter langer Stahlträger im Kölner Ausstellungsraum BPA in der Maastrichter Straße. Die Rauheit des dunklen Materials, die rostigen Abplatzungen, die kompliziert wirkende Mechanik der Aufhängung, all das fügt sich nahtlos in die kahle Atmosphäre, die das Parkhaus ausstrahlt, in der sich auch der Ausstellungsraum mit der Covid-19-freundlichen Fensterfront befindet. Zwischen der Aufhängung und dem an einer Balancierer-Traverse angebrachten Stahlträger ist eine digitale Kranwaage eingehängt: 105,5 Kilogramm zeigt das Display in großen, rot leuchtenden Zahlen an. Jede Vibration des Gebäudes, ausgelöst durch die einfahrenden Autos auf das darüber liegende Parkdeck, versetzt den Träger in sanfte, kaum merkbare Schwingungen, die den Stahl fast schwerelos erscheinen lassen.

Beschäftigt man sich einmal näher mit dem Werk Weinfurters, stellt man fest, dass die Auseinandersetzung mit Fragen der Zugänglichkeit, Ressourcen und des Eigentums darin häufig eine tragende Rolle spielen. Dass das Material Stahl und die Stahlarbeit ausgerechnet in der Metropolregion Rhein-Ruhr, in der die Arbeit zum ersten Mal gezeigt wird, eine besondere Bedeutung tragen, mag ein passender Zufall sein. Mit dem verspäteten Beginn der industriellen Revolution in Deutschland ab den 1840er Jahren und den damit verbundenen Gründungen der Hütten- und Stahlwerke in Essen und Duisburg (Rheinhausen) wird insbesondere das Ruhrgebiet zur führenden Industrieregion. Immer mehr Menschen zieht es auf der Suche nach Arbeitsplätzen in die Städte. Die Industrialisierung bringt Arbeitsplätze, freie Unternehmerschaft und technischen Fortschritt. Was sie auf lange Sicht auch bringt, sind Ausbeutung, soziale Spannungen, kapitalistische Machtstrukturen und einseitige Besitzverteilung, die die gerade überwunden geglaubten feudalistischen Strukturen ersetzt. Es entstehen Siedlungen und Massenquartiere für die Arbeiter, deren monotoner und entkräftender Arbeitstag gerne 12 bis 14 Stunden dauert. Eine ausgeprägte Interessenvertretung, Gewerkschaften oder eine staatliche Sozialgesetzgebung gibt es zu Beginn der industriellen Revolution nicht. Erst mit der Zeit bildet sich unter den Arbeitern ein Bewusstsein für die eigene Klasse und die Notwendigkeit, sich zu organisieren. Die daraus resultierende Arbeiterbewegung setzt sich für eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lage ein.

An die Unerschütterlichkeit der Arbeiter fühlt man sich unweigerlich bei der Betrachtung des Videos erinnert, das die Ausstellung begleitet. Im Ausstellungsraum ist es nicht zu sehen, sondern kann optional über das eigene Smartphone abgerufen werden, was sich unbedingt empfiehlt. Das Video zeigt eine Gruppe von fünf Personen, die den schweren Stahlträger auf den Schultern gemeinsam einen steinigen Weg entlang tragen. Es ist grau und windig, links und rechts von ihnen liegen nichts als Felder. Ihr Keuchen und des stetige Geräusch ihrer schweren Schritte sind das einzige Indiz für die Kraftanstrengung, die sie aufbringen müssen, um den Träger zu bewegen. Keiner spricht, alle schauen zu Boden, konzentriert auf die Aufgabe, die die Gruppe verbindet: Vorankommen. Niemand von ihnen scheint sich dagegen zu wehren oder die gemeinsame Mission infrage zu stellen. Ein perspektivischer Wechsel und die Betrachtung aus der Höhe machen aus ihnen kleine Ameisen, die ebenso ein Stück Holz in ihren Bau tragen könnten. Noch in der Nacht wandern die fünf mit der stählernen Last durch die Dunkelheit. An ihren Händen und Gesichtern fluoresziert stellenweise eine Flüssigkeit, die hier und da bereits auf den Stahlträger abgefärbt ist. Oder umgekehrt? Ihr Kapital jedenfalls scheint weniger die geschulterte Ressource, als vielmehr die vereinte Muskelkraft. Eine Ressource wiederum, der sich Jack London als Arbeiter schnell beraubt sah.

105,5 Kilogramm wiegt der Stahlträger. An dieser Tatsache ist nicht zu rütteln und das Display der Waage wird nicht müde, daran zu erinnern. In einer bedeutungsschweren performativen Geste, die man als den dritten Akt des Projekts „Prinz der Austernpiraten“ betrachten kann, nimmt sich Weinfurter dem Stahlträger noch einmal  an. Im Laufe der Ausstellungszeit wird dieser in 15 identische Stücke zerteilt. Pyramidenförmig werden die einzelnen Fragmente aufeinander gestapelt und neu arrangiert, sodass sich ihre Last gleichmäßig auf als Sockel fungierende Personenwaagen verteilt. Wie Londons Metapher vom wankenden gesellschaftlichen Gebäudekonstrukt oder die Geschichte der Arbeiterbewegung, legt dieser letzte Akt nahe, dass, lässt sich eine erdrückende Struktur nicht gänzlich und ohne Weiteres abschaffen, so gilt es, sie Stück für Stück zu verändern.

 

[1] Jack London: Revolution and other Essays: What life means to me, The Macmillan Company, New York 1910.

[2] „It is the foundation of the edifice that interests me. There I am content to labor, crowbar in hand, shoulder to shoulder with intellectuals, idealists, and class-conscious workingmen, getting a solid pry now and again and setting the whole edifice rocking.“ (Ebenda).