Archive 2021 KubaParis

St. Beisel

Location

Kunsthalle Gießen

Date

20.12 –08.01.2022

Curator

Dr. Nadia Ismail

Text

Eine sperrige Holztür führt zu einer post-apokalyptisch anmutenden Landschaft. Der gesamte Boden ist mit Erde bedeckt, am Ende des Raumes ragt eine Holzscheune auf. Rings herum liegen Gartengeräte, Plastikstühle und violett leuchtende Neonröhren verteilt. Sie weisen Spuren einer Existenz auf, aber es ist kein Lebenszeichen auszumachen. Aus der Ferne sind verzerrte Stimmen und Musik zu hören. Mich lädt die Stimme von Bo Burnham ein: Don't overthink this; Look in my eye; Don't be scared, don't be shy; Come on in, the water's fine...“. Mit diesen Worten verlasse ich den Eingangsbereich und begebe mich auf Spurensuche. Wer die Kunsthalle Gießen kennt, wird beim Betreten dieser Ausstellung überrascht sein: Der eigentliche White Cube lässt sich nur noch erahnen. Mit einer begehbaren Rauminstallation lädt das Künstlerduo Laurenz Raschke und Kajetan Skurski auf eine Pilgerreise durch das Jenseits ein. Unter dem Namen Studio Beisel erfinden und transformieren sie Räume immer wieder neu. St. Beisel kann als einer dieser Transformationen verstanden werden und ist zugleich titelgebend für ihre erste institutionelle Einzelausstellung. Spuren hinterlassen Das Sammeln von Übersehenem, Überbleibseln oder längst Weggeworfenem stellt in der künstlerischen Praxis von Studio Beisel eine gängige Methode dar. Neben den existenziellen Fragen nach dem Tod und dem Darauffolgenden sind in der Ausstellung immer wieder Spuren und Abdrücke zu sehen; Materialisierungen eines Strebens, menschliche Existenz zu markieren. Personen treten in verschiedene Räume ein und hinterlassen Spuren. Sie entdecken aber auch die Hinterlassenschaften derjenigen, die sich vor ihnen auf diese Reise begeben haben, wie etwa Schuhabdrücke in der Erde oder das Echo von Stimmen. Die Spurensuche beginnt bereits bei der Aushändigung eines Pilger:innenpasses. Nach einer Unterschrift und einem Stempel werden Besucher:innen gebeten, in einem Warteraum Platz zu nehmen und Fragen aus dem Pass zu bearbeiten: „Wo wolltest Du schon immer hin?“, „Wen würdest du jetzt gerne wiedersehen?“, „Wo ist Deine Seele gerade?“. Diese und weitere Fragen dienen als Vorbereitung für die bevorstehende Reise. Das Hinterlassen der Personalien bildet die erste räumliche und zeitliche Markierung. In der Scheune findet eine weitere Markierung statt. Dort hängt eine runde textile Leinwand, umrahmt von einem Trauerkranz. Der Pilger:innenpass verrät mir: „Dein Körper wird gleich ins Internet geschickt. Er wird dort als ‚NFT‘ für immer aufbewahrt.“ An dieser Stelle sind die Besucher:innen eingeladen, ein Bild von sich vor der Leinwand aufzunehmen. Die Ergebnisse zeigen verzerrte phantomartige Portraits, die von den Künstlern später in NFTs verwandelt werden und auf studiobeisel.com ab dem 21. Dezember 2021 einsehbar sind. Gespeichert auf der digitalen Blockchain sind auch in den Fotografien Abdrücke hinterlassen. Der Weg ins Digitale In der Scheune wird eine gewisse Schwelle überschritten. Es kommt zu einem Transit vom physischen in den virtuellen Raum. Die Autorin Legacy Russell stellt in ihrem 2020 erschienen Manifest Glitch Feminism fest, dass die Grenze zwischen der realen und der digitalen Welt nicht mehr existiert. Sie sieht in Störungen (glitches) ein Potenzial, die Beziehungen zwischen Technologien, Körper und Identitäten neuzudenken: „Errors, ever unpredictable, surface the unnameable, point toward a wild unkown. To become an error is to surrender to becoming unknown, unrecognizable, unnamed.“ Russell begrüßt diese Störungen, welche Grenzen auflösen und festgeschriebene, sozial hergestellte Körperkonzepte destabilisieren. Dies kann als ein Akt der Befreiung verstanden werden. Darin lassen sich aber genau die Ängste in Bezug auf die menschliche Vergänglichkeit festmachen, die vor allem in westlichen Kulturen eingeprägt sind. In der Übertragung der Fotografien in eine digitale Datei geschieht genau das. Die portraitierten Besucher:innen nehmen eine unbekannte, unerkennbare und noch unbenannte Form an. Es findet eine Transformation der Körperhaftigkeit statt. Übrig bleibt nur noch eine verfremdete Spur der eigenen Existenz. Streben nach Unendlichkeit Die Ausstellung St. Beisel wird mit einer performativen NFT-Messe abgeschlossen und soll im virtuellen Raum weiterleben. Die Vorstellung eines utopischen Potenzials von NFTs trotz der damit einhergehenden Risiken zeugt von einem Widerspruch, der in der Ausstellung thematisiert wird: Das Festhalten an unabwendbarer Vergänglichkeit. Denn der Wunsch, im Digitalen in der Unendlichkeit zu existieren, geht nicht ganz auf. NFTs hinterlassen ebenfalls Spuren. Dazu gehört ein nicht unwichtiger ökologischer Fußabdruck – durch das Schürfen von Kryptowährung entsteht ein immenser Energieverbrauch, der notwendig ist, um schließlich die digitalen Dateien zu kaufen. Spätestens mit Blick auf die Klimakrise wackelt der Traum einer für immer existierenden digitalen Datei. In der Ausstellung St. Beisel wird dieser existenziellen Frage in humorvoller wie nachdenklicher Weise nachgegangen. Dazu gehört nicht zuletzt auch das Angebot, die NFTs statt mit Ethereum auch mit Kreditkarte zu zahlen. Studio Beisel lädt dazu ein, in sich zu gehen und die Räume bewusst zu erfahren.   Die performative NFT-Messe und Benefizauktion der in St. Beisel entstandenen NFTs findet am 9. Januar 2022 um 16 Uhr statt. Die NFTs können vom 21.12.2021 bis zum 9.1.2022 auf rarible.com ersteigert werden. Ein Teilerlös wird an den Verein „Bündnis gegen Depression Gießen e.V.“ gespendet. Weitere Informationen unter kunsthalle-giessen.de und studiobeisel.com/nftdrop

Radia Soukni