Tanja Kodlin "All the days, I owe You"

Project Info

  • 🖤 Tanja Kodlin
  • 💙 Ottoplatz, Bahnhofsvorplatz Köln-Deutz
  • 🤍 8.–19. April 2023
  • 💛 Lorenz Obermeier
  • 💜 Nelly Gawellek

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Auf dem belebten Bahnhofsvorplatz in Köln-Deutz steht eine große gläserne Vitrine, eine Art freistehendes Schaufenster. Jeden Tag führt Tanja Kodlin darin zu einer festgelegten Uhrzeit eine Performance auf. Unauffällig gekleidet mit einem Trenchcoat und Stiefeln, bewegt sie sich zunächst wie die anderen Passant*innen auf den Glaskasten zu. Doch sie geht nicht daran vorbei, sondern zückt einen Schlüssel und betritt die gläserne Kammer. Drin tauscht sie die Stiefel gegen Sneaker, legt den Mantel ab, hängt ihn an einen Haken und schlüpft in eine weiße Hose und Jacke aus Mesh. Im Zusammenspiel mit dem Licht, das durch alle Seiten in den Schaukasten einfällt und in den Scheiben reflektiert wird, lässt der transparente Stoff ihre Silhouette verschwimmen. In dem Strom von Fußgänger*innen und Bahnreisenden, der sie umgibt, wirkt sie plötzlich wie ein außerirdisches Wesen, ein Cyborg, eine zerbrechliche Larve in ihrem Kokon.
Das Wesen beginnt, sich langsam zu bewegen – kontrolliert, mechanisch – als würde es versuchen, die menschlichen Bewegungen um sich herum zu imitieren oder auf sie zu reagieren. Hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen, wie in einem Versuchslabor erprobt es verschiedene Bewegungsabläufe, macht vorsichtige Schritte, beugt seinen Oberkörper in verschiedene Richtungen, streckt die Gliedmaßen, so als wäre es gerade erst in diesen Körper hineingeboren worden und müsste seine Flexibilität, seine Möglichkeiten testen.
Tatsächlich vollführt Tanja Kodlin Ausweichbewegungen, die sie einem Boxkampf entlehnt. Vielleicht ein bisschen wie die Bewegungen der Passant*innen, die sich im Außenraum gegenseitig ausweichen. Ohne (sichtbares) Gegenüber jedoch verstärkt sich der Eindruck von Isolation.
Die gläserne Kammer und das darin stattfindende Schauspiel, bilden einen krassen Kontrast zu dem im Hintergrund vorbeirauschenden Verkehr und dem Strom von Passant*innen, der die Szene umspült. Manche bleiben verwundert stehen, andere gehen einfach vorbei.
Das Wesen, die Cyborg-Frau ist allein in der abgeschlossenen Kammer, sie interagiert nicht mit der Außenwelt und greift doch massiv in die Umgebung des Bahnhofsvorplatzes ein.

Beim Betrachten tauchen verschiedenste Assoziationen auf: Vor dem Hintergrund der Erfahrungen einer globalen Pandemie mag man an soziale Isolation oder an Quarantäne denken. Vielleicht fühlt man sich an die vielen Glasscheiben erinnert, die uns auf einmal voneinander trennten, um uns zu schützen – in Restaurants oder beim Einkaufen. Der Glaskasten lässt aber auch an ein Schaufenster denken, ein Terrarium im Zoo, durch das man ein exotisches Wesen beobachtet oder auch ein Diorama, das Einblicke in andere Welten oder Zeiten gibt.
Auf der Kleidung, die Kodlin trägt und die in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Nora Hansen entstanden ist, sind kreisförmig und ohne Leerstellen die Namen der Wochentage aufgestickt: mondaytuesdaywednesdaythursdayfridaysaturdaysunday. Um Zeit geht es Tanja Kodlin, um ihren natürlichen Verlauf, der durch planetare Zyklen und die Abfolge von Licht und Dunkelheit vorgegeben ist, aber auch um ihre Messbarkeit und individuelle Wahrnehmung. Ebenso um Rhythmen und Geschwindigkeiten, die sich nicht nur in der Diskrepanz von innen und außen zeigen, sondern auch auf der Ebene von Schall, wenn sie zum Höhepunkt der einstündigen Choreografie laute Töne ausstößt. Den Titel der Performance leiht sich Kodlin von David Bowies "Days", einem Musikstück, das durch einen sehr speziellen, leichten, aber treibenden Takt strukturiert ist. Der Rhythmus, dem Tanja Kodlin folgt, vollzieht sich asynchron zu der Geschwindigkeit ihrer Umgebung und folgt verschiedenen Phasen, vom Ankommen über die sich steigernden Ausweichbewegungen bis zu dem Moment, in dem ihre Stimme hinzukommt und sich die verlangsamte Bewegung wieder an die reale Zeit angleicht. All das wiederholt sich an zwölf aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils um eine Stunde verschoben. Wir werden zu Beobachter*innen einer selbstbestimmten Zeit, die sich durch die ihre rigide Struktur und die verlangsamte Bewegung spürbar von unserer erlebten Zeit im Außen unterscheidet und sich doch auf sie bezieht, wenn sich die beiden Zeitzonen in unserer Wahrnehmung überlagern. Geschickt kreiert Tanja Kodlin so ein spannungsvolles Gefüge aus sich wechselseitig beeinflussenden Relationen zwischen innen und außen, aus sich gegenseitig durchkreuzenden Blickrichtungen und Bewegungsabläufen.
Besonders interessant erscheint mir das dadurch entstehende Verhältnis von Performerin und Publikum: Obwohl wir in eine Art Schaufenster blicken, gibt es keine eindeutige Charakterisierung der Akteur*innen in Subjekt und Objekt oder Betrachter*innen und Betrachtetes und dementsprechend auch keine klaren Blickhierarchien. Ebensowenig scheint es bei Kodlin darum zu gehen, Verhältnisse wie diese zu unterwandern oder umzukehren. Zwar stellt sie ihren Körper in einem rundum gläsernen Kasten zur Schau, der ihm keinerlei Schutz bietet und für die Passant*innen in jedem Winkel einsehbar ist, doch fehlt das voyeuristische Moment. Indem sie den gläsernen Raum betritt, entzieht sie sich der Umwelt – ihrer Zeit, der Interaktion mit den anderen Passant*innen, dem Wetter. Sie kreiert ihre eigene Sphäre, innerhalb derer sie als handlungsmächtiges Wesen agiert und wodurch der Glaskasten fast wie ein geschützter Raum wirkt. Dennoch nehmen die Abläufe im Inneren auf das Außen Bezug und beeinflussen dieses wiederum, indem etwa Bewegungen und zeitliche Abläufe miteinander kollidieren und kleine und große Momente der Irritation entstehen.
Vielleicht lässt sich dieses komplexe Verhältnis am treffendsten mit Karen Barad als "Intra-Aktion" beschreiben: als eine wechselseitige Beziehung, in der alle beteiligten Kräfte – nicht nur die Körper, ihre gegenseitige Wahrnehmung und Bewegung, sondern auch Raum und Zeit – konstant im Austausch sind, sich gegenseitig beeinflussen und lenken und untrennbar voneinander agieren. Die Differenzsetzungen (und Hierarchien) zwischen Körpern, Identitäten oder auch zwischen innen und außen sind innerhalb dieses Gefüges fragil und situativ. Tanja Kodlins Performance lenkt den Blick auf die Komplexität der uns umgebenden Gefüge und die in ihnen bestehenden Wechselwirkungen und Abhängigkeiten: Ein Lichtstrahl, der uns blendet, die Bewegung anderer Körper, denen wir ausweichen, ein unsichtbares Virus, das uns befällt und dessen Existenz gleichzeitig von uns abhängt. "All I've done, I've done for me. All you gave, you gave for free. I gave nothing in return, and there's little left of me." Was David Bowie für die Beziehung zweier Menschen besingt, könnte auch eine Metapher für unser Verhältnis zu unserer Umwelt sein, mit der wir untrennbar verbunden sind, auch wenn wir uns immer noch und wahrscheinlich fälschlicherweise als isolierte Individuen empfinden.

Tanja Kodlin "All the days, I owe You", 2023
Konzept, Choreographie, Performance: Tanja Kodlin
Stimmarbeit: Elisa Kühnl
Textile Arbeiten (aus der Kollektion yokoxnora): Nora Hansen

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