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Auf Grundlage der Empirie von Alltagserfahrungen erschloss der französische Soziologe Pierre Bourdieu kultursoziologische Einsichten. 98 Werke hinterließ der politische Intellektuelle, als er 2002 starb. Dass Bourdieu seine Feldforschung auch mit Hilfe der Fotografie betrieb, erfuhr das Publikum erst einige Jahre nach seinem Tod. Nun ist Bourdieus fotografisches Gesamtwerk erstmals ganzheitlich zugänglich. In Form eines interaktiven Archivs, zeigt der Projektraum Whitebox, der Zeppelin Universität Friedrichshafen, die 1153 Fotografien, die der Soziologe zu Zeiten des Algerienkriegs machte.

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Die Wände des kleinen, weißen Kubus sind dicht mit Schwarzweißfotos im Format 30 mal 30 bepflastert. Aufgenommen im gleißenden Licht Algeriens, zeigen sie mit harten Kontrasten das Eindringen des französischen Kolonialsystems in die sozioökonomischen Strukturen des Landes. Es sind gestohlene und gestellte Momentaufnahmen: Eine verschleierte Frau knattert in Highheels und selbstbewusstem Blick auf einem Motorrad eine Straße Algeriens entlang. Hinter ihr, ein Citroën 2CV, liebevoll auch Ente genannt, der sich bis heute als Ikone der Libertinage hält. Andernorts grinsen Vater und Sohn dem Betrachter stolz, posierend entgegen. Kessel, Töpfe, Schüsseln und Pfannen übermengen das Gefährt, das der Vater steuert. Das riesige Knäul aus scheppernden Haushaltsutensilien ist die Ware des zufriedenen Händlers. Neue ökonomische und soziale Gegebenheiten treffen auf tradierte Strukturen. Es sind Ausschnitte einer Gesellschaft im Umbruch, die Bourdieu uns zeigt. Sein Blick verbindet dabei stets das Ernsthafte mit dem Trivialen, auch dem Komischen. Die Bilder führen zurück zu den Anfängen der soziologischen Arbeit des studierten Philosophen, in das Jahr 1955. Als Reaktion auf seine kritischen Äußerungen gegenüber dem kolonialistischen Vorgehen Frankreichs wurde Bourdieu als Soldat zweiter Klasse nach Algerien versetzt. Dort landete er in der Verwaltung und nutzte seine Zeit für ethnologische Beobachtungen. Seine Erschütterung von der systematischen Zerstörung einer ganzen Kultur durch das Kolonialregime mündete Jahrzehnte später in der Publikation Algerische Skizzen, die bei ihrer Erscheinung in Frankreich große Aufmerksamkeit erregte. Bei diesem Versuch, einen nicht-konventionellen Blick auf die algerische Gesellschaft zu gewinnen, spielte die Fotografie für Bourdieu eine bedeutende Rolle. Die Kamera sollte seinen Beobachtungen nicht nur Objektivität und Evidenz verleihen. Vielmehr nutzte er die Fotografie als ergänzenden, reflexiven Blick, der es ihm ermöglichte, die momenthaften Impressionen seiner Beobachtungen im Nachhinein zu überprüfen und zu überkommen. Dieser Wille gilt als Initialzündung seiner späteren großen soziologischen und wissenschaftstheoretischen Arbeiten. In stetiger Verflechtung von Theorie und Praxis, war es Bourdieus Anliegen, gesellschaftliche Machtverhältnisse, Strukturen sozialer Ungleichheit und deren Einfluss auf die Herausbildung subjektiver Denk- und Handlungsmuster zu analysieren. Der verstehende Blick, den er durch die Linse seiner Zeiss Kamera lernte, war Teil seines Ansatzes, sich der Welt phänomenologisch zu vergewissern. An dieser Stelle wird die Besonderheit dieses Ausstellungsprojektes deutlich. Denn es widmet sich nicht nur einer intensiven Betrachtung der historisch wertvollen Schwarzweiß-Fotografien. Mit dem interaktiven Archiv greift das Projekt „Der verstehende Blick“ diese phänomenologische und praxeologische Herangehensweise des Soziologen auf, die den Titel der Ausstellung kürt. Anstatt also in der Whitebox, wie derzeit vielerorts, über postkoloniale Ansätze in der Ausstellungspraxis nur zu diskutieren, wird hier ein anderer Versuch gewagt. Der komplexe Zusammenhang der fremdbestimmten sozialen und ökonomischen Neuordnung Algeriens durch die Kolonialmacht Frankreich wird mittels einer Vielzahl an Perspektiven nachvollzogen. Das interaktive Archiv und sein Programm laden dazu ein, sich mit Hilfe aller Sinne das komplexe Problem zu erschließen: Studierende erarbeiten projektweise neue Ausstellungen mit den fotografischen Dokumenten. Doch sie wurden ebenfalls dazu aufgefordert, diesen verstehenden Blick durch die Kamera auf einer Forschungsreise selbst nachzuvollziehen und auszuprobieren. Zudem umfasst das Programm Ringvorlesungen, die den historischen Kontext genauer beleuchten oder sich aktuellen Fragestellungen widmen. Hier wird beispielsweise das Dokumentarische als politische Praxis diskutiert. Und auch künstlerische Wissensproduktionen erhalten Einzug in den Diskurs. Eine Lesung ausgewählter Texte der algerischen Schriftstellerin und Regisseurin Assia Djebar stellte Bourdieus ethnologischen Beobachtungen eine literarische Perspektive auf das Algerien der 50er Jahre gegenüber. Und Roberto Musci gibt Einblicke in seine Ethnomusikologie – eine musikalische Verhandlung der Feldforschung. Die Besucher haben die Möglichkeit, Vielstimmigkeit verstehen und erproben zu können. Eine Eigenschaft, die oft vorausgesetzt wird und dazu führt, dass die komplexen postkolonialen Diskurse in der Theorie verkommen, anstatt das Weltverständnis tatsächlich nachhaltig zu beeinflussen. Der phänomenologische Ansatz, sich dem Diskurs durch ein konkretes Beispiel mit Hilfe von künstlerischen wie wissenschaftlichen Zeugen zu nähern, schützt vor der Theoriekeule und schnellen Verallgemeinerungen. Sie öffnet den Blick, diversifiziert ihn, lässt ihn begreifen und verstehen. Hierin liegt auch das geteilte politische Engagement des Ausstellungsprojektes und Pierre Bourdieus. Sie beide wollen lernen zu sehen, um sichtbar zu machen, lernen zu verstehen, um verständlich zu machen. Natürlich ist in all diese Beobachtungen, Fotografien, Vorträge und Konzerte der subjektive Blick der jeweiligen Autoren eingeschrieben. Und man muss fragen, wie objektiv ein selektiertes Fotomotiv sein kann, auch wenn es im Rahmen ethnologischer Forschungen geschossen wurde. Oder ob sich der Kontext der Fotografien nur für ein Publikum erschließt, das bereits vorgebildet ist. Auch wie wir über einen solchen Sachverhalt nachdenken können, ohne dem gefärbten Blick unserer Sozialisierung zu verfallen, ist fraglich. Wie wir Missstände sichtbar machen können, ohne sie erneut zu kategorisieren und zu verallgemeinern. Doch indem das interaktive Archiv zur Auseinandersetzung mit aufkommenden Fragen einlädt und sein Programm auf Diversität setzt, verhandelt es dieses Dilemma des subjektiven blinden Flecks selbstreflexiv. So ist das interaktive Archiv gleichzeitig als ein Versuch und Plädoyer für eine phänomenologische und multiperspektivische Herangehensweise an soziopolitische Diskurse zu verstehen. Es ist ein gelungener Versuch, die Lücken zwischen dem, was eine Ausstellung nicht zeigen, ein Text nicht vermitteln, eine Rede nicht erörtern und ein Konzert nicht hörbar machen kann, mit Vielstimmigkeit zu schließen. Ein Ansatz, dem es vielleicht gelingen kann, unser begrifflich verhaftetes Denken zu durchbrechen. Fotografien: Pierre Bourdieu, Ohne Titel, R 001. Archiv Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1958 – 1961. © Fondation Bourdieu, Kreuzlingen, CH. Courtesy Camera Austria, Graz, A. Pierre Bourdieu, Straßenhändler mit Sohn, Orléansville, Chlef, R 014. Archiv Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1958 – 1961. © Fondation Bourdieu, Kreuzlingen, CH. Courtesy Camera Austria, Graz, A. Pierre Bourdieu, Straßenhändler, Maison-Carrée (Algier), R 012. Archiv Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1958 – 1961. © Fondation Bourdieu, Kreuzlingen, CH. Courtesy Camera Austria, Graz, A. Pierre Bourdieu, Marabout in der Region Oran, R 082. Archiv Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1958 – 1961. © Fondation Bourdieu, Kreuzlingen, CH. Courtesy Camera Austria, Graz, A. Das Projekt „Der verstehende Blick“ ist eine Kooperation der Zeppelin Universität mit der Stiftung Bourdieu und Camera Austria. Das interaktive Archiv wurde von der Kooperative für Darstellungspolitik entworfen und umgesetzt. Die Ausstellung der Whitebox eröffnet zum diesjährigen Kunstfreitag, am 06. März 2020. Das Programm für die Veranstaltungen ist auf der Homepage der Zeppelin Universität verfügbar.

Carlotta Wald