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Hiding in plain Sight
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Hiding in plain sight oder: Tagträume befragen.
{Randnotiz: Dieser Text ist Teil und Prolog der Ausstellung Hiding in plain sight. Er basiert auf einem Fragenkatalog, den alle Beteiligten beantworteten. Die Antworten finden sich hier verwoben, erweiteren, befragen wieder und bieten eine mögliche Lesart an. Die Verbindungslinien wurden von Paulina Seyfried gezogen, welche das kollaborative Projekt als einblickende Außenstehende begleitete.}
Träumen gilt gemeinhin ein constant state of being, a continuous state of illusion. Träume sind aber auch schwierige und unkontrollierbare Räume für subjektive Eingriffe und Entwicklungen. Wie verhält es sich mit Tagträumen, – kann man sich in ihnen begegnen, symbiotisch oder parasitär? (Wie) geht Zusammensein?
Wir sind zu jeder Zeit und in jedem Moment Individuen und daher nie ganz Gemeinschaft. Nein, anders. Doch steht die Idee des Individuums auch für die in-sich-funktionierende-Menschmaschine: ein bedeutungsloses Ganzes, welches erst dann interessant wird, wenn es sich durch Aktion-Reaktion und das Ausmessen von Machtverhältnissen – sei es durch körperliche oder verbale Interaktion – der Welt zugehörig wird. Risse in der Displayoberfläche entstehen durch Brüche der eigenen Realitätswahrnehmung.
Ein individuelles Ganzes bin ich im Glück, in der Scham, der Sucht, der Vergessenheit, der Abwesenheit von Kultur.
Wahrheit hängt demnach von individuellen wie relationalen Geschichten ab und ist nie objektiv? Nun ja, hierzu fällt mir lediglich der Gedanke ein, dass bei aller Bemühung hermetische, für sich stehende, konsequente und überzeugende Kunstwerke zu schaffen, stets ein besonderes Potenzial in den Beziehungsweisen und Handlungsräumen mit anderen Wesen liegt. Kunstwerke und ihre Welt als Gitter, als Raster, durch das man in einen abweichenden Zustand fällt, einschließt und ausschließt. Oder anders: In der Gemeinschaft zu verweilen, statt sie zugunsten des Selbst zu negieren, ist wohl die einzig aushaltbare Existenzform.
... Wahrheit ist ein starres Konzept, für das man streiten oder töten oder an das man glauben kann. Doch gleichzeitig: löst sich die Existenz von Fiktion durch die Nicht-Existenz von Nicht-Fiktion auf. (Oder die Grenzen sind so im Fluss, dass sie keine Bedeutung mehr haben?)
Vor Kurzem habe ich gelernt, dass Rehe in flache Teiche gehen, um sich von Blutegeln beißen zu lassen. Die Blutegel haben Enzyme in ihrem Speichel, die Muskelschmerzen lindern. Symbiose wird oft als parasitär missverstanden und umgekehrt. Ein Parasit braucht funktionierende Strukturen, auf die er sich niederlassen kann.
Der Wirt braucht den Parasiten zunächst nicht. Eine wünschenswerte Art des Zusammenlebens in einer Gruppe oder zwischen Individuen erfordert ständige Überwachung und das Setzen von Grenzen sowie zuzulassen, dass bestimmte Grenzen überschritten werden.
Gleichzeitig habe ich schon öfter gedacht, dass mich Mücken gerne stechen und mein Blut haben könnten, wenn die Stiche nicht jucken würden. Dann wäre der parasitäre Akt nicht so schlimm. Ein schlauer Parasit würde dann immer nur so viel vom Wirt nehmen, dass der sich erholen könnte und möglichst lange alle Beteiligten gut leben könnten, weil der Wirt genug zu geben hat.
Aber so läuft es irgendwie nicht. Deswegen ist der erstrebenswertere Zustand eher die Symbiose? Nein, nein, Eins und Eins kann nie Eins ergeben – Einswerden als Utopie - im Kollektiv aufgehen als Stärke? Symbiose als das Glück der Verschmelzung (?)
Ein Parasit ist hingegen jemand, die oder der sich dissozial verhält; wenig bis gar nichts zurückgibt. Oder: Eine Ansammlung von Parasiten ist der wahrhaft kollektive Tagtraum, ist Utraromantik1. Sie werden zu Tagträumer:innen, zu Kollaborateur:innen, zu Kämpfer:innen für die eigene Sache, das eigene Streben ohne Gewissen. Im Miteinander, ohne ineinander aufzugehen, sich aufzuheben.
1+1 =3. Wo höre ich auf, wo fängst du an?
[Bei der Rekonstruktion eines Erlebnisses kompensiert das Gehirn im Unterbewussten jeden Informationsmangel mit zuvor gesammelten Informationen, Erfahrungen. So lassen sich auch Träume nur in Teilen rekonstruieren, vermengen sich unmittelbar mit den eigenen Fähigkeiten des Erzählens.]
Tausende Jahre der Philosophie haben uns nicht einen Zentimeter näher an die tatsächliche Wahrheit gebracht, sodass wir zu dem Schluss kommen können, dass das Einzige, was wir wissen, der Wunsch ist, eine Geschichte zu erzählen.
Künstlerische Praxen erzählen auch Geschichten, vermitteln Perspektiven, die sich mit anderen vermengen. Und ohne wahr oder als Ganzes greifbar zu sein, existiert das Kunstwerk in der realen Emotionswelt. Es entspringt stets dem Überbleibsel eines (tag-)träumerischen Zustands, dem Inneren, wo man etwa auch Verliebtheit oder Verachtung spürt. Es spricht über die Magie, die
dem Moment des distanzierten Betrachtens innewohnt.
Der Blick auf den behutsam geflochtenen Zopf der Frau im Bus.
In ihrer Materialisierung nehmen Erzählungen Raum
ein, werden greifbar: So wird Material der Kanal, durch
den ich ausdrücke, was ich nicht in Worte fassen kann
oder will. Das Material ist dann Träger einer Information.
Es sollte wie ein Sprachsystem sein, das Werkzeug
eines Ausdrucks. Jedes Material bringt, wie auch jedes
Lebewesen, eine Geschichte mit sich. Es steht für etwas
(nicht für ein Etwas, sondern für viele?) und vermittelt
dadurch ein Gefühl – Geborgenheit, Freude, Ekel, Gewalt,
Sterilität, Vertrautheit, Ungewissheit. Insofern denke
ich, dass das Besondere am Manifestieren im Material
die plötzliche Zeitlosigkeit der Emotionen ist.
Das vielleicht bedeutendste Erzeugnis der Materialisierung
ist der Negativraum. Nicht das Objekt ist wichtig,
sondern seine Präsenz. Welche Stelle im Raum verdichtet
sich durch seine Materialität? Wo wird der organische
Körper durch seine Existenz umgeleitet oder angehalten
und welchen Raum gibt das Objekt vor?
Als Mensch besetzt man, nimmt (sich) Platz und fordert
Verbundenheit.
Der Natur ist es vollkommen egal, ob ein Mensch den
Wald betritt. Keine Wurzel wurde für den Menschen
angefertigt, kein Baum existiert für den Menschen. Der
Wald ist keine Bühne, er spricht einen nicht an. Die Natur
meint einen nicht.
[Jeder lebendige menschliche Körper und Milliarden
Bakterien stehen jeden Tag im symbiotischen Austausch
und versorgen sich gegenseitig mit wichtigen Stoffen
oder Handlungen, so wie Bakterien und Pilze, Pilze und
Bäume, Bienen und Blumen … Wir essen, scheiden aus,
reden und hören zu. Es ist schwierig, ein individuelles
Ganzes zu behaupten, wenn alles auf Austausch beruht
und offen ist. Und trotzdem bleibt am Ende immer wieder
und wieder als Bildwerdung bloß dieses verdammte
Rhizom2.]
Raum besetzen. Im Öffentlichen, im Inneren des Gegenübers.
Öffentlich ist der Raum, der zwischen privaten
Räumen entsteht und frei zugänglich ist. Durch die
Zugänglichkeit ist er eine potenzielle Bühne für künstlerische
Interventionen, die in unmittelbaren Austausch
treten, durch eine Intervention oder ein Happening. Die
Grenzen verschwimmen, innerlich trägt man die Einschreibungen
auf eigene Art mit, nimmt sie auch mal in
den Schlaf mit hinein.
(Privates) Eigentum erscheint mir ein wenig dramatisch,- (Privatheit
ist etwas, das ich sehr respektiere).
Der öffentliche Raum beginnt mit dem Schritt aus der
Haustür. Vor allem als weiblich gelesene Person ist es wichtig, jedes Wort, jeden Schritt, jede Bewegung weitestgehend
so zu choreografieren, dass die verkörperte
politische Haltung repräsentiert wird.3
Wenn ich also radikal über die Idee eines öffentlichen
Raumes nachdenke, denke ich daran, ihn als das Gegenteil
eines privaten Raumes zu definieren? Letzterer ist
im Grunde der individuelle mentale Raum. Konkret gesagt:
physische Räume, in denen es keinerlei Vermittlung
braucht. Ein öffentlicher Raum ist demnach ein Raum,
in dem Vermittlung nicht nur notwendig, sondern auch
elementar ist. Öffentlichkeit gibt es nicht, sie ist stets im
Prozess, immer im Werden. Auch Raum hat mit Gegenwärtigkeit
zu tun. Wenn ich meine Umgebung wahrnehme,
aber mich nicht über das Denken in ihr verorte,
sondern einfach in ihr bin, ist das für mich Gegenwart.
Gegenwart gibt es und gibt es nicht. Sie ist eine Aneinanderreihung
von Vergänglichkeiten. Der Kontaktpunkt
zwischen Vergangenheit und Zukunft, der nie ruht, sondern
immer sich nach vorne bewegt.
(20) 21, 22, 23 schon wieder vorbei.
Gegenwart ist immer! Die Zeit ist eine Landschaft, ein
Flow, – keine Linie. Gegenwart als Ausgangspunkt, das
Zeitgenössische als aus dem Jetzt denkend.
Zeitgenossenschaft („contemporaneity“4) hingegen als
Zustand der distanzlosen Verkörperung gegenwärtiger
Ambivalenzen.
[„Tagträume sind bildhafte, mit Träumen vergleichbare
Fantasievorstellungen und Imaginationen, die im
wachen Bewusstseinszustand erlebt werden.“, heißt es
bei Wikipedia, der vielleicht bekanntesten Plattform gemeinschaftlicher
Wissensgenerierung. Diese Form des
hierarchiefreien Zusammenarbeitens und Teilnehmens ist
wohl ebenso verlockend utopielastig, wie das Tagträumen
selbst. Und so treffen sich in der Frage ‚Gibt es einen
Zustand des kollektiven Tagträumens?‘ Gefahr sowie
Schönheit unterschiedlicher Realitäten, Wahrheiten und
nicht zuletzt ganz einfach: Perspektiven.]
Informationsstränge wurden behutsam geflochten, wieder
verworfen und neu angesetzt. Das ist ein mögliches
Ergebnis einer fiktionalen, wahrgewordenen Aushandlung,
des Versuches kollektiven Tagträumens.
1 Hieronymi, Leonhard, Ultraromantik, Berlin
2017.
2 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizom (Internationale
marxistische Diskussion, 67), Berlin 1977.
3 Frei nach Simon de Beauvoir.
4 Irit Rogoff, „The Expanded Field“, in: Jean-Paul
Martinon (Hrsg.), The curatorial: a philosophy of curating,
London; New York 2013, S. 46.
Diese Ausstellung wurde ermöglicht durch die Unterstützung von: Reinraum e.V., Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland, Stadtsparkasse Düsseldorf and Akademieverein München
Paulina Seyfried