SPAZIARE 30

Spaziare 30- Hedonismus und Konsum Die Ausstellung Spaziare 30 im Razzia Schaufenster von Joram Schön ist eine Ausstellung in einem Schaufenster, über Schaufenster, in Form von Schaufenstern: Sie nutzt insofern auch die Wirkung des Schaufensters als Bühne und thematisiert es zugleich inhaltlich. Sie zeigt Beobachtungen und Darstellungen des Künstlers, der sich durch Recherche und Spaziergänge mit der Historie und der soziokulturellen Zusammensetzung des Kiez beschäftigt hat und am Ende eine eigene Perspektive und Gestaltung präsentieren kann. Das italienische Wort spaziare bedeutet reichen, wandeln; die Zahl 30 bezieht sich auf die früheren Postleitzahlen Berlins und steht eben genau für diese Gegend. Einzelne Läden und Geschäfte aus Gegenwart und Vergangenheit sind auf einer großen Zeichnung zu finden, die wie eine Karte hilft, sich orientieren zu können. Dennoch tauchen immer wieder Elemente auf, die irritieren, weil sie nicht verortbar sind. Und auch die Auswahl einiger und nicht aller real existierenden Geschäfte lässt Rückschlüsse auf den Künstler und seine Wahrnehmung zu. Hedonismus könnte hierbei ein funktionierendes Navigationssystem sein, welches den Herumschlendernden leitet, nach Wünschen und Begehren nachspürt. Doch die temporäre Verzögerung der Stadtplanung an die Bedürfnisse der Bewohner:innen macht eben genau diese Pause aus, das kurze Verharren vor einem Schaufenster, der Appetit auf Konsum, das Differenzieren der Lust oder der Notwendigkeit, ein Weitergehen, eine Inanspruchnahme des Angebots. Die Rolle der Gewerbeinhaber:innen ist die der Vorausdenkenden, welche durch ein komplexes Zusammenspiel aus eigenen Träumen und Erfüllung des Ladeneigentums, den Spürsinn entwickeln, welche Bedürfnisse ihre potenziellen Kund:innen haben könnten. So stellt schon die Gestaltung und Namensgebung der Geschäfte eine Kommunikation dar, die mit zarten Schenkeln, Muskelversprechen, glänzendem Schmuck, fleischlicher Lust oder anderen Fantasien wirbt. Traumschlagworte wie beispielsweise Harem, reduzieren auf Klischees und diskriminierende Projektionen, werden zu Gedichten innerhalb einer konsumistischen Erzählung. Gleichzeitig gibt es den bitteren Beigeschmack der Realität, in welcher bestimmte Einwohner:innengruppen durch ihr größeres Kapital die Entscheidungsmacht über den Lebensraum anderer besitzen und diese verdrängen. Der historische Kreislauf von Vergnügungsgewerbe rund um den Bülowbogen und die kapitalistische Logiken rund um die Nutzung von Immobilien, wiederholt sich kontinuierlich unter anderem Namen und mit unterschiedlichen Kontexten. 
 *Kleine Geschichte des U-Bahnhof Bülowstraße Von 1974 bis 1991 (während der Teilung Berlins) wurde der U-Bahnhof Bülowstraße nicht
für den öffentlichen Personen-Nahverkehr genutzt. Zunächst wurde einVergnügungsbetrieb namens U-Tropia errichtet, welches sich aber nicht wirtschaftlich rentierte und daher nur 2 Jahre existierte. Nach diesem Versuch der Zwischennutzung konnte ein Geschäftsmann namens Atalay Özcakir seine Idee von einem Türkischen Basar realisieren. Zunächst wurden alle möglichen Waren „orientalischer“ Art angeboten, von Teppichen über Kleidung und Schmuck. Später wurde das Angebot durch die Nachfrage bestimmt: Insbesondere türkischsprachige Video-und Musikkassetten standen zur Ausleihe und wurde dadurch auch zu einem sozialen Ort des gemeinschaftlichen Austauschs der türkischen Diaspora.