Mooni Perry

Missings:

Project Info

  • 💙 WestfĂ€lischer Kunstverein
  • 💚 Eingeladen durch Kristina Scepanski, umgesetzt durch Theresa Roessler
  • đŸ–€ Mooni Perry
  • 💜 Theresa Roessler
  • 💛 Thorsten Ahrend

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Installationsansicht, Mooni Perry Missings: From Baikal to Heaven Lake, from Manchuria to Kailong Temple, 2024, © Foto: Thorsten Ahrend
Installationsansicht, Mooni Perry Missings: From Baikal to Heaven Lake, from Manchuria to Kailong Temple, 2024, © Foto: Thorsten Ahrend
From Baikal to Heaven Lake, from Manchuria to Kailong Temple
Installationsansicht, Mooni Perry Missings: From Baikal to Heaven Lake, from Manchuria to Kailong Temple, 2024, © Foto: Thorsten Ahrend
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Installationsansicht, Mooni Perry Missings: From Baikal to Heaven Lake, from Manchuria to Kailong Temple, 2024, © Foto: Thorsten Ahrend
„Creating by losing“, was im Deutschen sinngemĂ€ĂŸ als „Gewinn im Verlust“ ĂŒbersetzt werden kann, ist eine Aussage der KĂŒnstlerin Mooni Perry, die mich seit unserem ersten GesprĂ€ch begleitet. Damals ging es um das ErzĂ€hlen, Tradieren und Aneignen von Geschichte(n), und um die Erkenntnis, dass kein Narrativ jemals vollstĂ€ndig abgebildet werden kann. Ein Text, eine Philosophie, ein Mythos, eine Praxis oder eine Idee unterlaufen in Anbetracht ihrer zeitspezifischen Kontexte stets VerĂ€nderungen, mĂŒnden in einer Vielzahl von Variationen. Mooni Perry (geb. 1990 in Seoul, KR) zeichnet diese Verschiebungen in ihrer neuen Ausstellung im WestfĂ€lischen Kunstverein ausgehend von Überlegungen zur daoistischen Philosophie nach. Denn hier lĂ€sst sich gut nachvollziehen, inwiefern jede Form der Kultur, Kommunikation oder Philosophie schon immer aus der Aneignung einer anderen entstanden ist. Historisch gesicherte Ursprungsgeschichten sind dabei fĂŒr die KĂŒnstlerin weniger von Interesse als vielmehr die Erkenntnis, dass die Philosophie des Daoismus eng mit dem Buddhismus und dem Konfuzianismus verwoben ist und je nach geografischem und kulturellem Raum anderen Lesarten unterzogen wird. WĂ€hrend der Daoismus in manchen Teilen Ostasiens heute immer stĂ€rker politisch vereinnahmt wird, erfĂ€hrt dieser andernorts weitere Interpretationen. FĂŒr ihre Ausstellung musste sich Mooni Perry auf ihrer mehrmonatigen Reise in China, Taiwan und Deutschland also immer wieder die Frage stellen: „Welche Geschichte möchte ich erzĂ€hlen?“ Mit dem eigens fĂŒr die Ausstellung produzierten Film „Missing“ (2024) geht die KĂŒnstlerin ein reflektiertes VerhĂ€ltnis zu Vorstellungen von Zugehörigkeit ein, um sich einem transformatorischen Moment gewahr zu werden, der sich erst in der Außenperspektive ergibt. Einer „Sehnsucht nach Westen“, die teils mit einer verzerrt-idealisierten Vorstellung von liberaler Demokratie und individueller Freiheit einhergeht, stellt Missing eine Sehnsucht nach Osten entgegen. Auf die Fragen nach AuthentizitĂ€t und OriginalitĂ€t, die im Kontext hegemonialer Geschichtsschreibung und GedĂ€chtniskultur zur Waffe im Kampf um Deutungshoheit avancieren, reagiert der Film mit einer Momentaufnahme, die eben nicht von ‚wahren‘ oder ‚falschen‘ ErzĂ€hlungen ausgeht. Viel eher ist die filmische ErzĂ€hlung ein Bekenntnis dessen, dass die Welt von Anderen auch anders betrachtet wird und sich eine tatsĂ€chliche Wahrheit nur in der Übereinstimmung von mehreren Perspektiven manifestiert. Der Titel der Ausstellung verweist auf ein Koordinatensystem, dass die KĂŒnstlerin gedanklich ĂŒber die Landkarte legt: Auf der x-Achse von Westen nach Osten, vom Baikalsee im heutigen Russland, dessen Region eng mit dem Schamanismus verbunden ist, zum Himmelssee im Changbai-Gebirge an der Grenze zwischen China und Nordkorea. Auf der y-Achse von Norden nach SĂŒden, von der Mandschurei, einer Region, die sich ĂŒber die heutigen Landesgrenzen von China, Russland und der Mongolei erstreckt, hin zum Kailong Tempel im taiwanesischen Tainan. Der zeitlich verordnende Zusatz „heutig“ ist insofern wichtig, als dass diese historischen und kulturellen Landschaften in den vergangenen Jahrhunderten eine Vielzahl von Besetzungen und Umdeutungen erfuhren, die auch den unwiederbringlichen Verlust von ostasiatischer Kosmologie und Kulturtechnik zur Folge hatte. In ihrer Recherche folgt die KĂŒnstlerin insbesondere der Frage, was die Idee ‚Ostasien‘ in Anbetracht einer durch zahlreiche BrĂŒche geprĂ€gte Geschichte heute ausmache und inwiefern kulturelle, historische und philosophische Traditionen die LĂ€nder China, Japan, Nord- und SĂŒdkorea sowie Taiwan verbinden. Im Foyer des Kunstvereins befindet sich ein Objekt, das auch im Film ErwĂ€hnung findet: Das aufwendig bunt beschmĂŒckte Papierhaus auf einem hölzernen Hocker beherbergt auf drei Etagen sieben Gottheiten. Ihnen wurde der Kailong Tempel gewidmet, der sich in Tainan befindet. Am 7. Juli im Mondkalender wird dort ein Ritual des Übergangs, eine Art Reifezeremonie begangen: MĂŒtter begleiten ihre (fast) 16-jĂ€hrigen Kinder in den Tempel, um eine Segnung fĂŒr die bevorstehende VolljĂ€hrigkeit zu erhalten. AnlĂ€sslich dessen werden die PapierhĂ€user verbrannt. Es ist die Hoffnung in der Zukunft unterstĂŒtzt zu werden, die sich im Ruß an den WĂ€nden des Tempels absetzen. Das Papierhaus wird zudem von einem spekulativen ErzĂ€hlstrang begleitet: Bereits durch die Glasfassade von außen einsehbar, lassen sich ĂŒberlebensgroß gezeichnete Figuren an der Wand erkennen. Sie reprĂ€sentieren Mitglieder des Asian Feminist Studio for Art and Research, das Mooni Perry gemeinsam mit Hanwen Zhang 2020 grĂŒndete. Diese Plattform entwickelte sich zu einem vielstimmigen Bezugsgewebe, verbindet AFSAR doch in wöchentlichen Online-Treffen weltweit Menschen, die sich zu den hier formulierten Fragestellungen austauschen und auch Projekte, wie die Ausstellung im Kunstverein, gemeinsam umsetzen. Make-Up und Kleidung der kreierten Charaktere gehen auf das sog. „Ba-Zi“ der Mitglieder zurĂŒck, was die „vier SĂ€ulen des Schicksals“ in der ostasiatischen Astrologie meint. Wenn Mooni Perry im Nachdenken ĂŒber IdentitĂ€tskonzepte von einem „Puzzle“ spricht, dann scheint sich das im Film Missing formal bereits in der Aufteilung in fĂŒnf ProjektionskanĂ€le zu ĂŒbersetzen. Die einzelnen Bilder, Kapitel oder Sequenzen wirken teils disparat aneinandergereiht, und dennoch ergibt sich aus den narrativen Strategien und insbesondere im Nebeneinander der Bilder eine eigene, wenn auch eigentĂŒmliche Welt: Einzelne Szenen werden gewissermaßen seziert, wenn sie multipliziert und aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt werden. Verbindungen zwischen unterschiedlichen Biografien und Geografien werden geschaffen, wenn fĂŒnf Personen gleichzeitig fragend gen Himmel blicken. Aufmerksamkeit fĂŒr einen bestimmten Dialog wird generiert, wenn nur ein oder zwei Projektionen laufen. Ein individuelles Leben wird in ein grĂ¶ĂŸeres historisch-politisches Narrativ gesetzt, wenn die Protagonistin schreibend auf einem Bett in einem Hotelzimmer sitzt und ihr Aufnahmen von der chinesischen Landesgrenze in Xiamen und der taiwanesischen in Kinmen nebenan gestellt werden. Missing begleitet die Zuschauer:innen so in eine Vielzahl von ZwischenrĂ€umen, die einer gegensĂ€tzlichen Logik von privat/öffentlich, real/fiktiv, außen/innen, religiös/atheistisch und insbesondere Gewinn/Verlust dezidiert den RĂŒcken zukehren, und stattdessen nicht vorhersehbare Korrelationen und SinnzusammenhĂ€nge zulassen. Dies verdeutlicht auch die improvisatorische RegiefĂŒhrung, die zwar ein Skript und gewisse Rollen vorsah, deren individuelle Interpretation und Ausgestaltung aber letztlich den Schauspieler:innen ĂŒberlassen wurde. Was in sich fragmentarisch und weit auseinander zu liegen scheint, findet in einer letzten Filmszene wieder zueinander. Die in Missing skizzierte Suchbewegung nach Orientierung, sei es mithilfe eines Orakelspruchs, dem Kartenlegen oder dem Beten fĂŒr Liebe im Chongqing Tempel, wird hier zeitweilig im Beisammensein der AFSAR-Mitglieder in einer Berliner Wohnung eingelöst, die ihr Wiedersehen bei einem Essen zelebrieren. „You’re going to find what you’ve lost,“ hieß es im Guandu Tempel. Auf die Frage, ob ein Verlust auch das Potenzial fĂŒr einen Neubeginn und unerwartete ZusammenschlĂŒsse birgt, scheint Mooni Perry hier eine mögliche Antwort formuliert zu haben: „creating by losing“.
Theresa Roessler

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