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Ein Interview mit Ani Schulze anlässlich der Ausstellung „Lovers & Hunters“ im Kunstverein Siegen. Von Elena Frickmann

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EF: Gestern hatte ich die Gelegenheit deine Einzelausstellung „Lovers & Hunters“ im Kunstverein Siegen zu sehen. Wieso hast du der Show diesen Titel gegeben? AS: Der Titel kann als ein loser Verweis auf die hybriden Figuren und Charaktere gelesen werden, die einem in der Ausstellung begegnen. Diese Figuren tauchen zumeist als Paare auf, die auf den ersten Blick in einer Art Ambivalenz stehen könnten. Eine Figur ist als „The Lover“ mit Keramikherzen und Liebesschlössern behangen. Es tauchen aber auch Figuren auf, die an Wächter erinnern, fast wie Warriors. Im gesamten Szenario geht es um Sehnsucht, Schutz und Kontrolle. Im Zentrum des oberen Ausstellungsraumes werden die beiden Flötenspieler beschützt oder bewacht, die als Figuren auf Kreativität oder künstlerische Produktion anspielen. EF: Ich empfinde „Lovers & Hunters“ gar nicht so sehr als Gegensatz, denn oft jagt man etwas, das man liebt, ja auch in irgendeiner Form hinterher. AS: Ja, so ist es vielleicht auch mit der Kreativität und der künstlerischen Produktion? Beim Entwickeln der Figur „The Lover“ habe ich Alain Badiou’s Buch „Lob der Liebe“ gelesen, in dem er von „der Liebe unter dem Aspekt von Sicherheit“ und der „Vollkaskoversicherung der Liebe“ spricht. EF: Oftmals erwische ich mich dabei, wie ich Kunst in zwei grobe Kategorien einteile. Eine davon würde ich so beschreiben, dass sie mir wie eine verdaute Form von Realität erscheint. Würdest du deine Arbeit so sehen? AS: Ja, in jedem Fall. Und lustiger Weise beziehen sich die Wandmalereien in „Lovers & Hunters“ ja auf Verdauungsprozesse und -organe. Meine Arbeiten reagieren auf historische und aktuelle Geschehnisse und Entwicklungen und transportieren diese weiter in surreale Erzählfragmente. Die Ausstellung im Kunstverein Siegen versucht - und das vielleicht am stärksten von allen Ausstellung, die ich bisher gemacht habe - die Betrachter*innen in eine Parallelwelt zu führen. In einem Zeitungsartikel über die Ausstellung hat ein Journalist sie als „Traumwelt“ bezeichnet. EF: Es hat teilweise schon etwas Traumsequenz-artiges. AS: Gemeint ist damit auch eine alternative Welt. Viele der Erzählfragmente verarbeiten aber tatsächlich Träume und Mythologien. So taucht zum Beispiel mehrmals der Brunnen mit endlosem Wasserloch auf, wie bei der Mythologie um die Danaiden. In einem Aquarell werden die Schwestern der Danaiden und ihre weibliche Rolle verändert. Sie erscheinen humorvoll als komische und blöde Figuren. EF: Die Ausstellung empfängt einen bereits im Schaufenster des Kunstvereins mit der Abstraktion eines Mundes und Kehlkopfs. Man wird quasi verschluckt. Was dieses Gefühl für mich verstärkt, ist der breitgefächerte Einsatz von Materialen und Medien: Wandzeichnungen, Malereien, Skulpturen und ein Video, dass sehr intensive Bild- und auch Tonwelten schafft. Man kann sich dieser Welt kaum entziehen und wird hineingesogen. Wann hast du damit begonnen, all diese Arbeitsformen miteinander zu kombinieren? AS: Das hat sich in den letzten Jahren erst so stark entwickelt. Eigentlich habe ich mit Malerei und mit Bildhauerei begonnen, dann habe ich mich der Produktion von Videos gewidmet und langsam ist alles in Installationen übergeschwappt. Dass nun dieser Eindruck der Vereinnahmung entsteht liegt auch daran, dass ich in den letzten Jahren Charaktere entwickelt habe, die wiederkehrend auftauchen, wie beispielsweise die hängenden und stehenden skulpturalen Figuren. Diese wachsen dann weiter in Zeichnungen und Malereien und verweisen wiederum auf Erzählfragmente oder Kostüme in meinen Videos. Jetzt gerade ist der Punkt gekommen, an dem all das sehr stark verschmilzt. Das spiegelt auch sehr gut wieder, womit sich meine Arbeit beschäftigt, nämlich der Parallelität und Verflechtungen von Geschehnissen und Narrativen. Weshalb hier auch so vieles aufeinandertrifft: Geschichte, Erzählfragmente, Emotionen, Materialien und Texturen. EF: Auf mich wirken viele Elemente wie eine Art Verlängerung oder Weitererzählung. Beispielsweise in der Videoarbeit „Flint House Lizard“: Die Materialien, die die Charaktere tragen, hängen plötzlich wie eine verlassene Hülle in der Ausstellung. Eigentlich wie bei einer Eidechse, die ihre Haut abgeworfen hat. AS: Ja, die Arbeiten spielen alle mit Haut und Häutung und auch mit der Abwesenheit von Körpern, Dieser Aspekt zieht sich in der Ausstellung durch bis an die Wände. Dabei ist ein grundlegendes und immer wiederkehrendes Element der menschliche Körper und seine Verletzlichkeit. Die Arbeiten verhandeln Fantasien, Wünsche und Gefühle. Manche der gezeigten Aquarelle auf Papier sind bewusst nicht gerahmt, sondern nur mit Glas an die Wand gebracht, um wie eine Haut auf der Wand zu liegen, fast eins damit zu werden. Eine Arbeit ist ein Stoffbild, dass auch wieder an Haut und Häutung erinnert. EF: Du meinst die Arbeit „By Sun’s Passionshape“? AS: Genau. Das Bild kommt aus einer Serie, die ich in Paris angefertigt habe, wo ich letztes Jahr zeitweise gelebt habe. Mit dieser Serie habe ich Gewaltszenen aus der traditionellen Malerei kartographiert und teilweise in ihre Dynamik auch umgedreht. Im Prozess ist also bei „By Sun’s Passionshape“ aus genau diesem Motiv der Gewalt etwas Ambivalentes geworden, sodass viele Betrachter*innen in den gemalten Figuren zwei Liebende sehen. EF: So ging es mir auch, um ehrlich zu sein. Aber die Grenzen zwischen Leidenschaft und Gewalt können ja sehr schnell verschwimmen. In der kurzen Zeit, in der wir uns kennen, habe ich gelernt, dass du in den letzten Jahren in Brüssel, in Paris, in Lissabon und nun in Braunschweig gearbeitet hast bzw. arbeitest. Spielt es für dich eine Rolle diese Orte oder biographischen Episoden in deine Arbeit zu integrieren? AS: Auf jeden Fall spielt es mehr und mehr eine Rolle. Vor allem im Hinblick auf die Materialien, die ich nutze. Beispielsweise ist mit dem Stipendium an der HBK Braunschweig Metall zu einem wichtigen Bestandteil meiner Arbeit geworden, weil ich das Glück habe, mit den Werkstätten hier vor Ort zusammenarbeiten zu können. Aber auch die eingesetzten Stoffe kommen aus speziellen Orten. Paris ist natürlich eine geniale Stadt, wenn man sich für Stoffe interessiert. Dazu kommen kleine Traces, autobiographische Hinweise. Paris spielt in der Ausstellung im Kunstverein Siegen eine besondere Rolle, weil ich dort im letzten Jahr während des Corona-Lockdowns war und diese Zeit deshalb vielleicht noch intensiver wahrgenommen und verarbeitet habe. In meinen Videoarbeiten spielen Orte nicht zwingend eine Rolle, bzw. übersetze ich sie oft in fiktive Orte oder als Stellvertreter. EF: „Flint House Lizard“ bezieht sich auf eine Theorie des Kosmologen Alexander Chizhevsky. Wie bist du auf die Arbeit dieses Wissenschaftlers gestoßen? AS: Tatsächlich bin ich in einem Text von Boris Groys darauf gestoßen. Er hatte Alexander Chizhevsky in einem Essay über den Russischen Kosmismus erwähnt. Später habe ich gesehen, dass sich auch andere Künstler*innen mit seinen Theorien beschäftigen. Ich fand es spannend, seine Theorien über das Verhalten von Individuen und Gruppen in ihrer ständigen Beziehung mit Sonnenzyklen als eine Art spekulativen Ausgangspunkt für „Flint House Lizard“ zu nehmen. Im Zuge meiner Recherchen habe ich auch das Max-Planck-Institut in Göttingen besucht, die sich mit Sonnenzyklen befassen. Den Film selbst habe ich in Andasol in Andalusien gedreht, einem der größten Solarwärmekraftwerke Europas. Eine Mitarbeiterin hat mich dort einen ganzen Tag durch die Anlage geführt und wir waren ganz alleine auf diesem riesigen Feld. Riesige Spiegel bewegen sich mit der Sonne: So sind sie mittags horizontal ausgerichtet und erstrecken sich im Laufe des Nachmittags ins Vertikale.man ist von so viel technologischen Mechanismen umgeben, aber trotzdem fühlt es sich organisch an, weil der Rhythmus von der Sonne bestimmt wird. Auf diesen Solarfeldern zu stehen hatte für mich dieselbe Kraft, die man am Meer spürt, wenn man dort nach langer Zeit zum ersten Mal wieder einen Sonnenuntergang beobachtet. EF: In Gesprächen mit dir habe ich bemerkt, wie sehr du dich in deiner Arbeit mit digitalen Entwicklungen, Technologie und Wissenschaft auseinandersetzt. Diese Einflüsse finden nur einen ganz subtilen Weg in deine Arbeit. Die Solaranlagen in der Filmarbeit habe ich als solche zunächst gar nicht wahrgenommen. In deinem Film „Merchants freely Enter“ spielen Drohnen und Vogelkameras eine Rolle. AS: Ich würde gar nicht sagen, dass ich diesen Einfluss in seiner Sichtbarkeit zurückhalte, sondern eher in einer andere Erzählform und Zeit überführe. In „Merchants Freely Enter“ empfinde ich den Blick der Kamera schon als etwas sehr Offensichtliches. Aber vielleicht meinst du, dass die Drohne vielmehr zu einem Charakter wird, als dass die Technologie im Vordergrund steht? EF: Ja, genau das ist es glaube ich, was ich meine. Technologie wird zum erzählenden Element, statt zum Gegenstand der Erzählung. AS: So ähnlich ist es auch bei „Flint House Lizard“: Die Solarflächen sind wie ein versteckter Motor des Films. Sie tauchen an den Höhepunkten auf und sind Energiespender für den Film. Und oft sind es eher emotionale Zustände, die ich versuche erfahrbar zu machen. EF: Parallel hattest du gerade eine Ausstellung im Roentgen-Museum in Neuwied, von dem ich dachte, dass es sich auf den Physiker Wilhelm Conrad Röntgen bezieht. Aber tatsächlich beherbergt das Museum Arbeiten der Kunsttischler Abraham und David Roentgen. Was hat dich daran interessiert? AS: Diese Verwechslung passiert natürlich häufiger. Ich kannte die Familie Roentgen und ihre Werkstatt auch nicht, bevor ich von dem Künstler Elmar Hermann zu der Ausstellung eingeladen wurde. Die Familie ist sehr spannend. Sie haben Spezialmöbel für europäische Königshäuser hergestellt, wie für Marie Antoinette und Ludwig XVI. Der spannendste Aspekt an den Möbeln ist, dass sie neben ersten Automatismen und Uhrwerken mit dem Aspekt der Verwandlung spielen. Sie haben mehrfach aufklappbare Fächer, Verstecke, Features und waren so gebaut, dass man sie leicht zum Transport auseinander schrauben konnte. Mich erinnern sie an unsere heutigen Laptops, die man auch aufklappt, und dann öffnen sich unzählige Fenster, Tabs und Ordner. Das haben auch meine Arbeiten in der Ausstellung verhandelt. EF: Und welche Projekte stehen bei dir als nächstes an? Gerade beende ich meine neue Videoarbeit „Suffusion of Yellow“. Diese wird am 26. Oktober auf der Webseite des Emscherkunstwegs (Urbane Künste Ruhr) permanent online gehen. Gleichzeitig wird Suffusion of Yellow vom 26. 10.-11.11. in der Gruppenausstellung „What I needed was Imagination…“ an der HBK in Braunschweig in Form einer Installation mit neuen Skulpturen und weiteren Elementen gezeigt. Ani Schulze (*1982) lebt und arbeitet zurzeit in Braunschweig. Die Ausstellung „Lovers & Hunters“ im Kunstverein Siegen ist noch bis zum 21. November 2021 zu sehen. Im Rahmen der Ausstellung erscheint auch ein von der Kunststiftung NRW geförderter Katalog mit Spector Books.

Elena Frickmann