Lea Grebe
Invasive Thoughts
Lea Grebe, Invasive Thoughts, installation view, The Tiger Room, Munich
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Lea Grebe, Cabinet III (tree fungus), 2025, wood, bronze
Lea Grebe, Cabinet I (snails), 2025, wood, bronze
Lea Grebe, Invasive Thoughts, installation view, The Tiger Room, Munich
Lea Grebe, Cabinet II (cocoons), 2025, wood, bronze
Lea Grebe, Cabinet II (detail), 2025, wood, bronze
Lea Grebe, Invasive Thoughts, installation view, The Tiger Room, Munich
Lea Grebe, Hybrid, 2025, Paper, Acrylic paint, tape
Das melodische Zirpen der Grille wurde vor allem in China ab dem sechsten Jahrhundert sehr geschĂ€tzt. Zu dieser Zeit wurden diese Insekten daher dort in KĂ€figen gehalten. Sie standen nachts oft direkt neben dem Bett, damit Halter:innen zum Gesang der Grillen einschlafen konnten. Es ist anzunehmen, dass zuerst von kaiserlichen Hofdamen versucht wurde, Grillen derart zu domestizieren. Davon ausgehend ist diese spezielle Form der Insektenliebe zu einer GelehrtenbeschĂ€ftigung avanciert, denen die melodischen LangfĂŒhlerschrecken als Sujet fĂŒr Gedichte, ErzĂ€hlungen und wissenschaftliche Studien dienten. FĂŒr Grillen entstand dabei eine Vielzahl an AusstattungsgegenstĂ€nden: Futtertabletts, ReinigungsbĂŒrsten, Pinzetten und Schlafnetze aus Seide staffierten die Behausungen der Tiere aus. Dickwandige BehĂ€lter aus getrocknetem KĂŒrbis, oft mit kunstvollen Gravuren versehen, hielten die Grillen in der kalten Jahreszeit warm. SommerkĂ€fige bestanden hingegen aus einem Keramikkorpus, meist mit einem Gitternetz aus Holz. Um die Grillen zum Singen zu animieren, stimulierten die Besitzer:innen das jeweilige Insekt mit einem Haar aus Rattenbart, partiell gefasst in Elfenbein.
In Mitteleuropa entstanden bis ins 18. Jahrhundert spezielle Insektenmöbel â jedoch programmatischerer Natur als jene, die die Grillen behausten: etwa sogenannte BienenstĂŒhle. Dabei handelte es sich um hölzerne SchrĂ€nke oder Truhen, in die mehrere Bienenstöcke integriert waren. Sie erinnerten mit ihren TĂŒren, kleinen Schubladen und dekorativen Elementen â etwa figĂŒrliche Deckelschnitzereien und -bemalungen â bewusst an MöbelstĂŒcke, sollten sie sich doch in das hĂ€usliche und meist bĂ€uerlich geprĂ€gte Ensemble einfĂŒgen. Ziel war die praktische Haltung von Bienen im Wohnhaus, geschĂŒtzt vor KĂ€lte und Raub. Den illustren Stellenwert der KĂ€fige chinesischer Grillen haben derlei Insektenmöbel indes nicht mehr erreicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Insekten im europĂ€ischen Kulturraum weniger der Kontemplation â etwa als eine Art lebendiges Singspiel â dienten, sondern als Nutztiere betrachtet wurden: So standen in Mitteleuropa vor allem Honig, Wachs und die BestĂ€ubungsleistung der Bienen fĂŒr Privathaltung im Vordergrund. Insekten blieben so nicht nur integraler Teil ökologischer Systeme, sondern wurden auch als Part landwirtschaftlicher Ăkonomie begriffen.
Sowohl die chinesischen KĂ€figmöbel fĂŒr Grillen als auch die europĂ€ischen Bienenmöbel sind Beispiele fĂŒr eine Kultur, die Insekten aus verschiedenen NutzungsgrĂŒnden einen Platz im hĂ€uslichen Leben einrĂ€umte und ihnen dafĂŒr eigens Möbel zuwies, die die Tiere ebenso schĂŒtzten wie einkastelten. Mit Beginn der Industrialisierung verloren diese Praktiken nahezu gĂ€nzlich an Bedeutung und das Insekt wurde â ohne gröĂeren kontemplativen oder ökonomischen Mehrwert fĂŒr den Einzelnen â im privaten Raum vollends zum SchĂ€dling hochstilisiert, der gröĂtenteils bekĂ€mpft wurde: ein Bild, das sich bis heute erhalten hat. Genannte historische Objekte, die dazu dienten, Insekten zu behausen, muten derzeit folglich wie stille Zeugen einer vergangenen und bisweilen befremdlichen NĂ€he und Neugier gegenĂŒber Insekten an.
Indirekt zĂ€hlen zu den exemplarisch genannten Möbeln auch die hier von Lea Grebe ausgestellten HĂ€ngeschrĂ€nke des mittleren 19. und frĂŒhen 20. Jahrhunderts â hĂ€ufig aus Nussbaum, Eiche oder Kirschholz gefertigt. Sie spiegeln den bĂŒrgerlichen Haushalt als reprĂ€sentativen und zugleich schĂŒtzenden Raum wider. Ihre geschlossenen Korpusse fungierten ehemals als SchutzbehĂ€ltnisse fĂŒr Arzneien, Porzellanfiguren, SchmuckbĂ€nde, Silber- und Zinnbecher, Devotionalien und andere Wert- und vor allem SchaugegenstĂ€nde. Gerade im bĂŒrgerlichen Biedermeier und im Historismus war es zudem sehr beliebt, KĂ€fer- und Faltersammlungen, getrocknete Pflanzen und andere vermeintliche KuriositĂ€ten in KabinettschrĂ€nken oder Schauvitrinen aufzubewahren und darin zur Schau zu stellen. Diese MöbelstĂŒcke waren speziell dafĂŒr gedacht, PrĂ€parate hinter Glasfronten sichtbar und geschĂŒtzt als Seltenheiten, aber auch als Ausweise eines neuerlich breiten wissenschaftlichen Interesses an Naturkunde zu prĂ€sentieren.
Als wĂ€ren genannte SchrĂ€nke nicht nur historische Objekte, sondern buchstĂ€blich selbst lĂ€ngst der Zeit anheimgefallen, werden diese vermeintlichen SchutzrĂ€ume fĂŒr Insekten nun zur HeimstĂ€tte neuer Organismen â doch unter umgekehrten Vorzeichen: Die von Grebe aufgehĂ€ngten SchrĂ€nke beherbergen nun keine entomologische Sammlung im herkömmlichen Sinne mehr, sondern sind vielmehr von deren scheinbar vitalisierten Exponaten in Besitz genommen worden. Holzbesiedelnde Pilze und GallĂ€pfel erobern die Korpusse zurĂŒck, setzen sich gar parasitĂ€r an ihnen fest; Tagfalterpuppen hĂ€ngen daran und andernorts sprieĂt Efeu aus dem Putz. In metallische Dauerformen ĂŒberfĂŒhrt, besetzt eine ganze Horde randstĂ€ndiger Flora und Fauna die hier ausgestellten Möbel und bricht aus den WĂ€nden des Ausstellungsraums. Dabei ist vor allem das Material entscheidend, aus dem sie gegossen sind: Bronze. Als Legierung aus Kupfer und Zinn gehört sie zu den kulturhistorisch Ă€ltesten intentional hergestellten Werkstoffen und ihre Entdeckung im vierten Jahrtausend vor Christus markiert eine ZĂ€sur, die in der ArchĂ€ologie als Beginn der Bronzezeit bezeichnet wird. Neben Werkzeugen und Waffen ist Bronze seither ein bevorzugtes Material fĂŒr figĂŒrliche und ornamentale Kunst. Der Einsatz der Legierung reichte von kleinformatigen Statuetten der altĂ€gyptischen und kykladischen Kulturen bis zu den heroischen Monumentalskulpturen der griechischen Klassik und den fein ziselierten Plastiken der Renaissance. Noch in die Gegenwart wird der Werkstoff fĂŒr seine Dauerhaftigkeit, Korrosionsresistenz und die FĂ€higkeit geschĂ€tzt, feinste Details eines Ausgangsgegenstandes ĂŒber einen Wachsausschmelzprozess metallisch bewahren zu können.
Durch den Einsatz von Bronze zur Darstellung von Kerbtieren und Myzeten invertiert Grebe die traditionsreiche Geschichte der Legierung: Was bisher oft einer anthropomorphen und idealisierenden Wirkung verpflichtet schien, wird durch ephemere, bisher kaum adĂ€quat geschĂ€tzte, doch biologisch hochspezialisierte Strukturen vorgeblich unscheinbarer Wesen ersetzt. Und wo mit Bronze seit Jahrtausenden heroische Figuren, Götterbilder und symbolisch aufgeladene Ornamente geschaffen wurden, werden nun fragile, vormals kurzlebige Organismen auf Dauer konserviert. Das organische Original â etwa die Puppe eines Tagfalters, der nicht geschlĂŒpft ist â tauscht im Gussprozess seinen Platz mit einem weitaus langlebigeren metallischen Medium. Der Abguss von Insekten, ihren Larven, von Pilzen, BlĂ€ttern und GallĂ€pfeln lenkt besagte tradierte Vorstellungen ĂŒber den aufwendigen Einsatz von Bronze nicht nur kontextuell, sondern auch Ă€sthetisch in eine neue Richtung: Anders als etwa in den Gestaltungsformen des frĂŒhen 20. Jahrhunderts werden von Grebe Pflanzen und Pilze nicht als Ornamentmotive in Metall und Glas ĂŒbertragen oder abstrahiert, sondern eins zu eins und mit all ihrer KreatĂŒrlichkeit erhalten. Die Hierarchie zwischen dem vermeintlich Erhabenen und dem offensichtlich Marginalisierten wird zumindest fĂŒr einen kurzen Augenblick fadenscheinig. Umgekehrt werden menschengemachte Möbel nun von Organismen bevölkert, deren biologische Signatur allein als metallisches Zitat weiter existiert. So entsteht ein komplexes WerkgefĂŒge, das gleichermaĂen in der Geschichte der MaterialĂ€sthetik, in der Möbel- und Wohnkultur des spĂ€ten 19. und frĂŒhen 20. Jahrhunderts, in der Naturgeschichte von Insekten, GewĂ€chsen und Pilzen und in den gegenwĂ€rtigen Strategien der Ăkologisierung von Wissen, auch in den KĂŒnsten, wurzelt. Durch die von Grebe intendierte Wechselseitigkeit zwischen ânaturaliaâ und âartificialiaâ wird so â an den RĂ€ndern eines vermeintlichen Natur-Kultur-Dualismus â sichtbar, dass kulturelle und biologische Geschichten nicht nur nebeneinander existieren, sondern existenziell verwoben sind.
Michael Klipphahn-Karge